
Sepps letzter Zug
Bahnhof Luzern. Ich steige um, wie so oft, und mein Blick wandert automatisch zur grossen Anzeigetafel. Gleis 13: 16.42 nach Giswil, mit Halt in Sarnen. Soweit nichts Besonderes. Doch darunter erscheint ein Satz, der mich schmunzeln lässt: „Sepp, gute Fahrt in den Ruhestand. Deine zb.“
Ich sehe noch einmal hin. Tatsächlich, genau so steht es. Sogar auf der Anzeige vor dem Gleis leuchtet die Botschaft noch einmal auf. Ein bisschen feierlich fühlt es sich an, als ich in den vordersten Wagen steige. Ich fahre mit – mit Sepp, den ich nicht kenne, auf seiner letzten Fahrt in den Ruhestand.
Kaum habe ich Platz genommen, entdecke ich im vorderen Teil des Wagons bunte Ballone, Stimmengewirr, fröhliches Lachen. Eine Gruppe von Menschen – Kollegen, vermutlich Freunde und seine Familie – die offenbar alle wegen Sepp gekommen sind und ihn auf seiner letzten Fahrt begleiten. Einige halten ein Glas Prosecco in der Hand. Ich lehne mich zurück und lasse die Szene wirken.
Plötzlich verändert sich die Atmosphäre. Normalerweise sitzt jeder still im Zug, den Kopf gesenkt über das Handy, und spricht mit niemandem – höchstens mit dem Bildschirm. Die neusten News müssen noch gecheckt werden, oder der Liebsten zu Hause mitgeteilt werden, dass man die vergessene Milch bereits eingekauft hat. Heute aber ist es anders. Heute reden die Menschen miteinander. Zuerst zaghaft, dann immer offener.
„Wann werden Sie pensioniert?“ fragt eine Reisende die Dame schräg gegenüber. „Mitte Monat,” antwortet sie lächelnd. Ein anderer sinniert laut, ob Sepp wohl ein Hobby habe, das ihn künftig beschäftigt. Der Mann gegenüber meint: „Wenn ich einmal pensioniert wäre, würde ich sogar das Pendeln vermissen. Ich könnte zwar ohne Wecker liegen bleiben, aber hätte wohl das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden.”
Man hört Lachen, kleine Unterhaltungen, die Stimmen überschneiden sich kaum störend, sondern fügen sich zu einer angenehmen Geräuschkulisse. Ein Kind fragt neugierig, warum die Ballone da sind, und jemand erklärt, dass Sepp heute seine letzte Fahrt hat. Die Menschen, die sich sonst kaum bemerken würden, wirken plötzlich verbunden.
Die Szene erinnert mich daran, wie wenig eigentlich nötig ist, um Fremde einander näher zu bringen. Nur ein Name auf einer Anzeigetafel, eine kurze Botschaft, und schon entstehen Momente, die sonst im Alltag selten vorkommen. Eine Verbundenenheit, die ich so in einem Zug schon lange nicht mehr erlebt habe. Vielleicht sollte die zb öfter kleine Sätze auf die Tafeln schreiben: „Was haben Sie in diesem Jahr zum ersten Mal gemacht?“ oder „Welchen kleinen Erfolg feiern Sie heute?“ – und man würde sehen, wie die Menschen einander zuhören, lachen, nachfragen.
In Sarnen steige aus und gehe an der Loki vorbei. Da sitzt Sepp, der Lokomotivführer, der diese Strecke wohl schon hunderte Male gefahren hat – aber heute ist seine letzte Fahrt.
Lieber Sepp, ich wünsche dir einen wunderbaren Ruhestand und danke dir, dass ich deine letzte Fahrt begleiten durfte. Du hast mir unverhofft eine ganz besondere Reise geschenkt.
Ich meinti
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