
Die Schwächste in der Gruppe
Kennen Sie das Spiel: „Wer ist die Mutigste, wer der Mutigste?“ Ich habe es einmal in einem Seminar mit Teenagern ausprobiert. Die Aufgabe war simpel: Sie sollten sich in einer Reihe aufstellen –vorne die Mutigen, hinten die Vorsichtigen. Das ging schnell, fast selbstverständlich. Alle wussten sofort, wer wohin gehört.
Dann fragte ich denjenigen, der ganz vorne stand: „Warst du schon mal verliebt? Und hast du es der Person gesagt?“ Ein kurzes Zögern – und plötzlich passte der Platz an der Spitze nicht mehr. Jemand weiter hinten ging nach vorne. Auf einmal hatte Mut eine neue Bedeutung.
Diese Szene kam mir wieder in den Sinn, als ich kürzlich mit meiner Wandergruppe unterwegs war. Seit über zehn Jahren ziehen wir an Maria Himmelfahrt los, zwei bis drei Tage gemeinsam. Dieses Mal waren wir sieben Menschen im Gotthardmassiv Richtung Tessin. 2890 Höhenmeter, 53 Kilometer. Und ich: die Schwächste in der Gruppe.
Ich bin langsamer, vorsichtiger. Ich könnte meine Sehschwäche oder die Bänderzerrung vom Februar als Ausrede nehmen. Doch in Wahrheit: die anderen sind trainierter, mutiger, sicherer.
Besonders deutlich wurde mir das am zweiten Tag. Vor uns ein Stück Weg, der für mich keiner war – steil, loses Gestein, mehr Kletterhang als Pfad. Alle sind hoch. Nur ich nicht. Mein Herz pochte, meine Beine blockierten. Alles in mir sagte Nein. Früher hätte ich das überspielt, aus Angst, nicht mutig genug zu wirken. Diesmal blieb ich stehen.
Und das Entscheidende: die Gruppe motivierte mich, aber drängte nicht. Kein „Reiss dich zusammen“, kein „Jetzt komm schon“. Sondern ein respektvolles: „Okay, wir gehen hoch, du kannst hier warten.“ Nein sagen zu dürfen, ohne die Zugehörigkeit zu verlieren, war ein wunderbares Gefühl.
Wir alle kennen es: In einer Gruppe gibt es immer Rollen. Die Schnellste, der Lauteste, die Lustigste, der Organisierte. Aber niemand ist in allem vorn. Jeder ist in etwas stark und in etwas schwach. Beim Wandern bin ich die Vorsichtige, die Langsamere. Dafür bring ich an anderen Stellen Ruhe hinein, oder behalte den Überblick. Und jemand, der am Berg leichtfüssig vorangeht, zögert vielleicht in einem Gespräch mit dem Chef – oder beim Geständnis einer Verliebtheit.
Genau darum geht es: Wir alle sind mal die Schwächsten, mal die Stärksten. Und das macht Gruppen lebendig. Stärke zeigt sich nicht darin, nie Schwäche zu haben. Sondern darin, den anderen Raum zu lassen für ihr Tempo, ihre Angst, ihr Nein.
Ich habe gelernt: Grenzen akzeptieren heisst nicht aufgeben. Es heisst, sich selbst ernst zu nehmen. Und wenn die Gruppe das mitträgt, fühlt man sich nicht weniger zugehörig – im Gegenteil. Man spürt, gerade mit seiner Schwäche hat man einen Platz.
Auf alle Fälle freue ich mich jetzt schon auf unsere nächste Wanderung 2026. Wenn es ins Appenzell geht.
Ich meinti
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